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Sonntag, 20. März 2016 | Hendrick Heimböckel

Von romantischen Reaktionen und ästhetischen Radikalen. Tagungsbericht: Romantik und Surrealismus. Eine Wahlverwandtschaft?/Une affinité elective?

Obwohl schriftliche Zeugnisse surrealistischer Autorinnen und Autoren vielfach explizite Bezüge zu den verschiedenen Gruppen der deutschsprachigen Romantik herstellen, gibt es bisher nur wenige Studien, die das Verhältnis von surrealistischer Kunst und Literatur mit gezielten Schwerpunktsetzungen untersuchen (Balakian 1947, Bohrer 1996). Diese Forschungslücke veranlasste Johann Thun (Leipzig/Lyon) und Sebastian Lübcke (Gießen) zur Veranstaltung des Kolloquiums Romantik und Surrealismus. Eine Wahlverwandtschaft?/Une affinité elective? (Lyon, 18.-19.3.2016), gefördert vom Interdisziplinären Zentrum für Deutschlandstudien und -forschung (CIERA) und getragen von zwölf weiteren NachwuchswissenschaftlerInnen.

Sowohl die Fragestellung des Kolloquiums als auch der methodische Ansatz waren ebenso ein Anlass für zwei Kollegiaten des Graduiertenkollegs Modell Romantik, sich an der fokussierten Betrachtung dieser diachronen, interkulturellen und intermedialen Stationen europäischer Kunst- und Literaturgeschichte zu beteiligen. Die modellbildende Funktion der Romantik für Ästhetik, Lebenspraxis und Wahrnehmung von 1800 bis in die Gegenwart trifft gerade im französischsprachigen Surrealismus auf eine Wegmarke ihrer Variation und Aktualisierung.

Die Veranstalter des zweitägigen Kolloquiums wagten unter Rückgriff auf die literatur- und kunstwissenschaftliche Anwendung des weber’schen Konzeptes der Wahlverwandtschaft ein Experiment. Mit der Orientierung an Michael Löwys Transposition des Konzeptes aus Max Webers bekannter Studie zur protestantischen Ethik und zum Kapitalismus in die Philologie (Löwy 2013) sollten die unhintergehbaren diachronen Beziehungen zwischen Romantik und Surrealismus synchron gewendet werden, mit dem Ziel der Analogiebildung von Philosophemen und Motiven zwischen beiden Epochen. In der sowohl impliziten als auch expliziten Folge dieses Ansatzes stellten alle Beteiligten entweder ideengeschichtlich oder strukturvergleichend anschauliche Parallelen auf, die in den Akten des Kolloquiums der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung stehen werden.

Die sieben Sektionen, angeführt von einer Hinführung seitens der Organisatoren, umfassten das Verhältnis zwischen Romantik und Surrealismus in einem Spektrum von mythischer Topographie und Geologie, Gemeinschaft und Politik, Identitätsstiftung und Identitätsdissoziation, Metaphern und Epiphanien, Traum und Spiritismus. Diese pointierten Schwerpunkte der Vorträge mögen grundlegend für die Nachvollziehbarkeit der Bezüge gewesen sein, weshalb die kritischen Diskussionen den konsensualen Gesprächen keinen Abbruch taten.

An dieser Stelle seien verkürzt einzelne Abschnitte dieses Spektrums belichtet: die Grotte, eine magisch kodierte Heterotopie seelischer Innenräume im Heinrich von Ofterdingen sowie Paysan de Paris. Eine Höhle bietet Heinrich von Ofterdingen und seiner Geliebten Schutz vor einem Gewitter, in der sie sich ihrer Zweisamkeit einander hingeben können, womit die unwirtliche Natur Geborgenheit und körperliche Ekstase zugleich allegorisiert. In der poetischen Perspektive von Aragons Pariser Bauern hingegen vollzieht sich umgekehrt eine Metaphorisierung der Stadt zu einem veräußerlichten Seelengemälde. Die Pariser Opern-Passage erscheint als eine Meeresgrotte, in der die ausgestellten Spazierstöcke zu Seegras und die Schaufensterpuppen zu Sirenen mutieren, die der Betrachter dieser Szene nur mit dem Ausruf „Das Ideal!“ kommentieren kann.

Steine bergen in romantischen und surrealistischen Poetiken tödliche Versuchungen, erlösungsbringende Verheißungen und unentzifferbare Verästelungen. Als Symbole einer Urschrift stellen sie in der Romantik noch die Zeichenhaftigkeit und Interpretationsbedürftigkeit von Mensch und Natur heraus. Letztere ist, wie in Hoffmanns Bergwerke zu Falun, zwar lesbar. Ihre Aneignung sanktioniert jedoch der Tod des Protagonisten. Diese magische Archäologie radikalisiert Caillois in L’ecriture des pierres, indem er den Ziselierungen der Steine zwar eine genuine Zeichenhaftigkeit beimisst, diese jedoch nicht auf den Ursprung von Sprache verweist. Ihre Bedeutsamkeit resultiere aus einer Zuschreibung, was den Unterschied von Kultur- und Naturzeichen nivelliere. Damit unterscheiden sich die Poetiken des Mineralischen hinsichtlich einer mythischen Urschrift in der Romantik von einer transhumanen Perspektive auf die Natur im Surrealismus, in denen dennoch die Sehnsucht zu zeitlosen Dingen und Räumen kristallisiert.

Rousseaus Spaziergänge markieren die Geburt der modernen Göttin „dolce far niente“ (Novalis). Sie stattet den Zufall mit dem Moment einer fast messianischen Erwartungshaltung aus, die das objet trouvé und die epiphanie profane des Surrealismus durch ein bewusstes Sich-einlassen auf die Möglichkeit einer ungewissen Begebenheit verwirklicht. Gleichfalls nehmen in diesen Ereignissen, durch die sich Zufall und Notwendigkeit keinesfalls ausschließen, die Entdeckung subjektiver Erfahrungsräume einer existenziellen Ästhetik der Entgrenzung sowie ein Anvertrauen im nicht mehr christlich kodierten Anderen ihren Ausgang. Das Telos des Zufalls steht außer Frage, er wird als Ereignis zum Moment des Selbstverständnisses.

Die Kulmination des Geniekultes des langen 18. Jahrhunderts im Paradigma der Einbildungskraft der Romantik bereitet den Weg zu einer Anthropologisierung des phantastischen Vermögens vor. Aus dieser kontinuierlichen Aufwertung und Verallgemeinerung der Einbildungskraft gehen sowohl ein Denken in individuellen Lebensentwürfen als auch ein poetischer Perspektivismus hervor. Im selben Zusammenhang sind die Versuche Friedrich Schlegels, der Tübinger Stiftler und der von Bataille ins Leben gerufene antifaschistische Kult des Acephal zu verstehen, wenn sie die Konstruktion eines imaginären, sozialen Bezugssystems anstrebten und so die Grundlinien einer Reflexivierung des Mythos als notwendige gemeinschaftsstiftende Einheit ziehen. Dabei spielt die Emphase des Augenblicks durch ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein ebenso eine zentrale Rolle wie die poetische Ausstellung politischer Gebilde als soziale Konstruktionen. Die damit einhergehende Umkehrung des Bedingungsverhältnisses vom Individuellen und Allgemeinen zugunsten des Individuellen in beiden Epochen sowie das über die Ästhetik hinausgehende Potential der Einbildungskraft führt im Surrealismus zu einer radikalen Infragestellung der Legitimität des Staates.

Gleichzeitig steht die Aufwertung der Individualität in einem Spannungsverhältnis zur Emphase von Zuständen, in denen das Bewusstsein seiner eigenen Kontrolle entzogen ist. Reflexionen auf die Funktionsweise ästhetischer Inspiration begleiten eine Mediumisierung der KünstlerInnen sowie parawissenschaftliche Allusionen, die in einer Kontinuität von der Romantik bis mindestens in die 1930er Jahre steht. Zu dem gesteigerten Interesse an nicht alltäglichen psychischen Zuständen gehören ebenso Poetiken von Transzendenzerfahrungen und des Traums. Die Poetik des Traums zeichnet von Novalis Prosaarbeiten über die Spätromantik den Weg von einer steten Verunsicherung des Subjekts nach, die sich im psychoanalytisch beeinflussten Surrealismus verstärkt, ohne an Attraktivität zu verlieren.

Merklich hebt sich der Surrealismus von der Romantik durch eine Verschiebung im Prozess der Analogiebildung ab. Während die romantische Analogie auf markante Ähnlichkeiten abzielt, verschreibt sich der Surrealismus einer Generierung sowohl künstlerischer als auch poetischer Bilder, die Unähnliches poetisch verdichten. Transponiert auf Bildmedien besteht jedoch, bspw. in den Collagen Max Ernsts, die romantische Analogie durch die Annäherung von Mikro- und Makrokosmos fort.

Die Faszination für das Nichtbewusste, die Phantastik und die Metapher ist kein genuines Merkmal des Surrealismus. Seine Ästhetik ist eminent von poetischen Verfahren, Motiven und philosophischen Reflexionen der Romantik geprägt. Diese Ästhetik setzt den Anspruch einer Transgression von Kunst in das Alltagsgeschehen durch die transparente Konstruktion subjektiver und kollektiver Mythen um, wendet eine Poetisierung des Alltagsgeschehens existenziell sowie anthropologisch, führt die romantische Sympoesie fort, figuriert Poetiken bildästhetisch und trägt die Analogie über die Grenzen der Ähnlichkeit hinaus. Aus welchen sozial- und ideengeschichtlichen Gründen diese Beziehungen bestehen, wie und wo sich die skizzierten Strukturmerkmale in Praktiken, Kunst und Medien bis in die Gegenwart verzweigen, streuen, wieder bündeln, welche Rollen ihre Instrumentalisierung für ökonomische Zwecke, virtuelle Welten und subkulturelle Phänomene spielen, sind Fragen, die sich im Anschluss an das Kolloquium stellen. Gleichfalls haben diese Fragen Geltung und sind weitere Ansatzpunkte für eine Gruppe junger Forscherinnen und Forscher, die nach den modellbildenden Funktionen der Romantik für Ästhetik, Lebenspraxis und Wahrnehmung sowie ihrer Variation, Reichweite und Aktualität fragen.

verfasst von Hendrick Heimböckel