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Donnerstag, 3. November 2022 | Andrin ALbrecht

Bericht zur Exkursion nach Oberwiederstedt und Weißenfels

Am 12. und 13. Oktober 2022 besuchten Mitglieder des Kollegs die Forschungsstätte für Frühromantik im Schloss Oberwiederstedt sowie die Novalis-Gedenkstätte in Weißenfels.

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Im ersten und wohl bekanntesten seiner 1798 unter dem Titel „Blütenstaub“ erschienenen Fragmente schreibt der Dichter Novalis: „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.“ [1]
Einige Dinge, die wir selbst bei unserer zweitägigen Suche auf den Spuren von Novalisʼ gefunden haben: jahrhundertealte Familienportraits, Herbstfarben, ein verstimmtes Klavier, weiße Marmorbüsten und blaue Blumen, Finanzierungsprobleme, ehrenamtliche Museumsmitarbeiter, Traumbilder, fragwürdige Liebesgeschichten, Braunkohle und das Bild eines jungen Mannes, der nach Kräften versuchte, seine Begeisterung für Philosophie, traditionelle Wertvorstellungen, aufkeimende Sexualität und eine strapaziöse Karriere im Staatsdienst zu vereinbaren. Der folgende Bericht handelt von all diesen Dingen sowie einigem Unbedingten dazwischen.

Novalis, eine der prägendsten und gleichzeitig ungreifbarsten Protagonisten der deutschen Romantik, hieß eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg und wurde 1772 auf Schloss Oberwiederstedt im heutigen Arnstein, Sachsen-Anhalt, geboren. Sein in die Literaturgeschichte eingegangenes Pseudonym, das lose übersetzt „der Neuland-Bestellende“ bedeutet, benutzte er zu Lebzeiten tatsächlich nur für seine zwei Veröffentlichungen „Blütenstaub“ und „Hymnen an die Nacht“ in der Zeitschrift Athenaeum.

So viel ist uns bekannt als wir am Morgen des 12. Oktobers im Reisebus auf dem Weg zu ebenjenem Schloss Oberwiederstedt sitzen: Wenn man sich in einer Dissertation mit der deutschen Romantik auseinandersetzt, kommt man an Novalis nicht vorbei. Man kennt seine aphoristischen „Blütenstaub“-Fragmente und seinen Briefwechsel mit dem scharfzüngigen Jenaer Schriftsteller Friedrich Schlegel. Man weiß, dass seine Verlobte Sophie von Kühn jung starb, ihm ein aus ihrem eigenen Haar geflochtenes Kreuz zurückließ, und dass Novalis ihr nur wenige Jahre später ins Jenseits folgte. Man kennt ebenso das Bild eines androgynen Jünglings – das einzige zu Novalis’ Lebzeiten angefertigte Portrait –; engelsgleich, irgendwie geister- oder sogar vampirhaft, emblematisch für einen Künstler, der den Tod so sehr liebte, dass er der schnöden Welt noch vor seinem dreißigsten Geburtstag den Rücken kehrte.
So weit, so romantisch.

Was vielen von uns noch nicht bewusst war, war, wie wenig dieses Narrativ mit dem tatsächlichen Friedrich von Hardenberg zu tun hat. Novalis-Experte Prof. Dr. Ludwig Stockinger, der am Nachmittag des ersten Exkursionstages einen Workshop abhielt und die enigmatischen „Hymnen an die Nacht“ mit uns Satz für Satz auseinanderschlüsselte, benutzt dazu den Begriff „Autorimago“ [2]: Novalis ist eine im kollektiven Bewusstsein entstandene Kunstfigur, ein editiertes und imaginiertes Ideal, während Friedrich von Hardenberg eine historische Persönlichkeit war, der diese Imago nur in Ansätzen entspricht.
Das soll natürlich nicht heißen, dass es in von Hardenbergs Leben weder Tod noch Romantik gab. Seine Kindheit war malerisch, bisweilen sogar märchenhaft, wie bei unserer ersten Reisestation auf Schloss Oberwiederstedt sofort ersichtlich wird:

Es ist ein strahlend schöner Herbsttag; die Bäume brennen rot und bernsteingolden; verspielte Wasserläufe schlängeln sich an weitläufigen Parkanlagen vorbei. Oberwiederstedt, ein altes Rittergut, liegt einen Katzensprung vom Harzgebirge entfernt. Einst war es ein Kloster und noch davor ein Hospital für die Arbeiter der umliegenden Kupferbergwerke. In der DDR war es vorübergehend ein Altenpflegeheim, das nur durch die Zivilcourage passionierter Bürger vor dem Abriss bewahrt wurde. Heute wird es als Museum genutzt, da es für die ersten zwölf Jahre seines Lebens das Zuhause Friedrich von Hardenbergs war. Hier versuchte er sich das erste Mal am Schreiben von Gedichten; hier wurde er von renommierten Hauslehrern unterrichtet; es wurde musiziert, getanzt, gemalt und debattiert. Sein Vater, seines Zeichens Beamter im sächsischen Staatsdienst, war strenggläubiger Pietist, der beim Bibelunterricht auch schon mal durchs ganze Haus brüllen konnte.

All dies beschreibt uns Dr. Steffen Schmidt, der Direktor des Museums in Schloss Oberwiederstedt, in lebhaften Farben. Die Begeisterung ist ihm anzuhören, ebenso jedoch die Anstrengung ob all der praktischen Herausforderungen, die die Leitung einer kleinen Gedenkstätte mitten im ostdeutschen Nirgendwo mit sich bringt: Wie Friedrich von Hardenbergs Vater selbst merkte, ist der Unterhalt eines Ritterguts mit erheblichen Material- und Personalkosten verbunden. Das Novalis-Museum ist für seinen Fortbestand gemäß Schmitt größtenteils von Drittmitteln, von EU-Förderbeiträgen und privaten Spenden abhängig. Es müssen ständig Renovierungen durchgeführt, Ausstellungsräume beheizt, reguläre durch prekäre Anstellungsverhältnisse ersetzt, Archivbestände sortiert, Schimmelbefälle behandelt und historische Gemälde restauriert werden. Novalis hat noch heute leidenschaftliche Verehrer – das berühmte Portrait des Dichters in Oberwiederstedt ist verglast und elektronisch gesichert, um übereifrige Besucher:innen davon abzuhalten, im wahrsten Sinne des Wortes sein Antlitz zu küssen –, doch die sind weit verstreut und das Angebot an historischen Gedenkstätten zur Romantik in Deutschland mannigfach.
Von Hardenberg, erfahren wir hier, war zwar mit Sophie von Kühn verlobt – und zutiefst getroffen von ihrem frühen Tod, wie die teils sehr konkreten Suizidgedanken aus seinen Tagebüchern belegen –, doch dieser depressive Einschlag war temporär. Schon ein halbes Jahr später setzte er sein Studium der

Bergbauwissenschaften in Freiberg fort, verlobte sich mit Julie von Charpentier, der Tochter eines seiner Professoren, und bereitete sich auf eine handfeste Karriere als Salinenassessor im preußischen Staatsdienst vor. Keine Spur mehr von performativer Todessehnsucht also – Friedrich Schlegel soll sich sogar in Briefen beklagt haben, diese neuerliche Verlobung verderbe das ganze Bild von Novalis. Sie wurde folglich in posthumen Darstellungen öfter in den Hintergrund gerückt. Das Narrativ einer tragischen Dichterliebe, die erst im Tod ihre Erfüllung findet, war einfach zu schön, um es sich von der Realität eines Adelssohns verderben zu lassen, der sich nach einem Schicksalsschlag wieder aufraffte, Poesie in den praktischen Aspekten des Lebens fand und Dichtung sozusagen als Hobby nach Feierabend weitertrieb. Mit der Tatsache, dass Sophie von Kühn bei ihrer Verlobung gerade mal zwölf Jahre und Novalis zweiundzwanzig war, dass sich dessen Eltern erst nach jahrelangem Sträuben mit der Verbindung abfanden, verhält es sich ebenso: Sie wurde in der späteren Kultivierung der „Autorimago“ oft mit einem Schulterzucken abgetan, der schale Nachgeschmack von süßem Blütenstaub überdeckt.

Nach einem kulturpolitisch angehauchten Morgen und einem akademischen Nachmittag trägt uns ein Bus in einen etwas mondäneren, aber auf eigenartige Art noch immer romantischen Abend. Unser Hotel liegt in Eisleben, einem kleinen aber malerischen Ort, der sich vor allem als Sprungbrett für Harz-Touristen sowie als Geburts- und Sterbeort Martin Luthers profiliert. Im Hotel Graf von Mansfeld, wo wir Zimmer reserviert haben, verschwimmen Reminiszenzen an Großpreußen und die DDR: Die Zimmer sind riesig, Holzdielen knarren; in den Regalen des Salons liegen Tierlexika aus dem vorletzten Jahrhundert und Abhandlungen über sozialistische Wirtschaftspraxis; alter Adel überschaut von Ölgemälden aus das Treppenhaus, und ein mit Kerzenleuchtern versehenes Klavier ist so verstimmt, dass der Chopin, den ich auf ihm zu spielen versuche, wie durch eine alte Überlandleitung gefilterter Free-Jazz klingt.

Vor den Stadträndern zerschneiden Wälder aus Windturbinen der Himmel, und die Panoramen erinnern einen wechselweise an Ferienpostkarten und den amerikanischen Rust-Belt. Die Betten, trotz eines diffusen Hauchs von Mottenkugeln, sind jedoch zauberhaft weich, und es ist so ruhig, wie es zu Novalis’ Zeiten gewesen sein muss. In einem Tagebucheintrag vom 23. April 1797 schreibt dieser: „Viel gutes niedergeschrieben. Nachtisch Kaffee im Garten, recht windstill einmal in mir.“ [3] In mir auch, Friedrich, in mir auch.

Tag Zwei führt uns nach Weißenfels, wo die Spuren der De-Industrialisierung noch deutlicher zutage treten: Nach der Wende brachen die Beschäftigtenzahlen praktisch über Nacht von 5.500 auf null ein. Freilich hat die Stadt schon davor ähnliche Wirtschaftsschocks erlebt: Das riesige alabasterfarbene Schloss auf dem zentralen Hügel erinnert daran, dass Weißenfels im 17. und 18. Jahrhundert vorübergehend Herzogssitz war. Als dieser 1746 aufgelöst wurde, verschwand mit ihm auch ein vielfältiger Wirtschaftszweig, der sich um den Hof herum gebildet hatte: Schneider, Köche, Livrierte und Perückenmacher verloren ihre Lebensgrundlage. Um die Wirkung abzufedern, verlegte die sächsische Regierung damals etliche Institutionen in die Stadt, darunter die regionale Salinendirektion. Dies wiederum war der Grund für den Umzug der von Hardenbergs: Friedrichs Vater sollte Salinendirektor werden, was ihm nur zu gelegen kam, da die Erträge der Güter um Schloss Oberwiederstedt längst nicht mehr für den Unterhalt einer Adelsfamilie reichten.

Salinen – imposante Konstrukte zur Salzgewinnung, deren Erträge damals knapp 20 Prozent des sächsischen Staatshaushalts ausmachten – müssen ständig beheizt werden. Weil gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Waldbestand im Osten des heutigen Deutschlands einen Tiefpunkt erreicht hatte, mussten neue Brennstoffe her. Dies initiierte den Braunkohleabbau im großen Stil, welcher die Gegend bis heute prägt. Friedrich von Hardenberg – mit einem Studienabschluss der Rechts- und Bergbauwissenschaften frisch in der Tasche – war an diesem Prozess aktiv beteiligt. Wie uns Jörg Riemer, der ehrenamtliche Leiter der örtlichen Novalis-Gedenkstätte erklärt, arbeitete von Hardenberg bereits während des Studiums an der ersten geologischen Karte Sachsens. Er war von früh bis spät zu Pferd unterwegs, besuchte die Salinen und Kohleminen des Umlands. Seine Notizen aus jener Zeit bestehen größtenteils aus Tabellen und komplexen Berechnungen; nur in den Rändern finden sich bisweilen hingekritzelte Reimwörter, die sich später in Novalis’ beiden unvollständigen Romanen Heinrich von Ofterdingen und Die Lehrlinge zu Sais als Gedichte wiederfinden.

Vor diesem Hintergrund erhalten auch von Hardenbergs philosophische Schriften plötzlich eine viel greifbarere, schmerzlich aktuelle Bedeutung: Er schreibt von der romantischen, immerwährenden Sehnsucht, von der Gespaltenheit des Ichs, vom selbstsüchtigen Philistertum, welches jegliches Transzendenzbestreben auf gesellschaftlich akzeptierte Zeitfenster beschränkt. Man kann solche Gedanken als romantische Weltfremdheit abtun, wie es im populären Verständnis nur zu oft geschieht: oh, das Absolute, ist die Natur nicht schön, wir sollten unsere Gefühle über unseren Verstand stellen … Doch damit täte man ihnen übel unrecht. Vielmehr wird uns in einem grandiosen Abschlussseminar mit PD Dr. Matthias Löwe klar: Hier schreibt ein hoch gebildeter – und trotzdem, wie wir alle, von der Komplexität einer sich rapide verändernden Welt überwältigter – junger Mann von seinem persönlichen Zwiespalt. Er liebt Philosophie und Dichtung, sieht aber ebenso den Wert von Industrieprojekten, Ressourcengewinnung, die Notwendigkeit einer für die Gesellschaft nützlichen Arbeit. Während strapaziöser Arbeitstage sehnt er sich danach, diesem Alltag zu entkommen, etwas Erfüllendes zu tun, weiß aber trotzdem, dass Erfüllung nicht heißt, Arbeit und Familie einfach über Bord zu werfen. Er ist noch immer auf der Suche nach sich, sehnt sich nach einer Gemeinschaft, in der man dieses Gefühl der Unvollständigkeit, des ewigen Suchens offen zugeben und mit anderen teilen kann. Friedrich von Hardenberg: ein Staatsbeamter, der in seiner Freizeit schreibt, aber sich weigert, eine Trennung zwischen Beruf und Freizeit – zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Genügsamkeit und Ambition, zwischen Alltag und Freiheit – zu vollziehen.

Wer weiß, wo solche frühromantischen Gedanken, Romanentwürfe und fragmentarischen Notizen einmal hingeführt hätten? Doch Friedrich von Hardenberg starb mit 28 Jahren an Tuberkulose, während sein Bruder für ihn Klavier spielte. Er stand am Anfang einer vielversprechenden Industriekarriere, war drauf und dran, selbst eine Familie zu gründen, doch die Verhältnisse in einem gerade erst in die Moderne eintauchenden Deutschland waren hart: Von Hardenbergs Mutter überlebte zehn ihrer elf Kinder, kehrte Weißenfels schließlich den Rücken und verbrachte ihren Lebensabend wieder auf dem alten Familiensitz Oberwiederstedt. Was für eine innere Spaltung, was für ganz und gar unromantische Sehnsucht sie da wohl empfand?

Ein paar Straßenecken vom Weißenfelser Museum entfernt befindet sich Novalis’ Grab. Es ist gut gepflegt. Wie ein Geschöpf höherer Sphären blickt eine weiße Marmorbüste des Dichters in die Ferne: langhaarig, bartlos, fragil. Immer wieder legen hier Verehrer blaue Blumen nieder – das zentrale Motiv aus Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen, welches später zum Symbol für die deutsche Romantik schlechthin wurde. Es gibt nur einen Haken: In der Graberde liegen keine Gebeine, rein überhaupt nichts. Von Hardenberg wurde ursprünglich bei seiner Familie auf dem alten Stadtfriedhof beigesetzt, doch im späten 19. Jahrhundert entschied man, diesen zum Stadtpark umzufunktionieren. Man grub den Boden um, pflanzte Hecken und Bäume, verwendete die Grabsteine für den Bau des Bismarck-Turms. Da man des berühmten Dichters trotzdem irgendwie gedenken wollte, errichtete man etwas abseits nun dieses Simulacrum.

Ringsherum: Ruinen früherer Schwerindustrie, ein Landkreis, der dringendere Probleme hat als die Reliquien eines jung verstorbenen Adelssohns. Gleichzeitig jedoch Stromleitungen, Schnellstraßen, Bahnlinien und die Rauchsäulen von Verbrennungskraftwerken. Auf den ersten Blick ganz und gar unromantisch … Doch nach zwei Tagen Exkursion ist uns klar, wie viel davon auf ebendie Braunkohleförderung zurückgeht, die Friedrich von Hardenberg aus den Kinderschuhen zu heben half. Man fragt sich, ob er Europa, Deutschland, Weißenfels und Oberwiederstedt damit nicht sogar nachhaltiger prägte als Novalis, dessen „Autorimago“ über einem leeren Grab ihre marmorweißen Flügel spreizt.

Anmerkungen

[1] Novalis: „Blütenstaub [1798].“ Werke in einem Band, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Rudolf Walbiner, München 2022, S. 277.

[2] „Imago, die: im Unterbewusstsein vorhandenes [Ideal]bild einer anderen Person […] fertig ausgebildetes, geschlechtsreifes Insekt nach der letzten Häutung.“ Duden online, www.duden.de/node/70099/revision/1444103, Aufgerufen 15.10.2022.

[3] Novalis: „8. Journal [18. April bis 6. Juli 1797].“ Schriften. Vierter Band, hg. von Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart, Berlin und Köln 1998, S. 30.

Die Exkursionsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf dem Weg zur Novalis-Gedenkstätte in Weißenfels

Novalis’ Grab in Weißenfels, mit posthum angefertigter Marmorbüste und Gedenktafel im Hintergrund

Novalis’ einziges zu Lebzeiten angefertigtes Portrait, aufbewahrt im Schloss Oberwiederstedt, elektronisch gesichert und verglast

Schloss Oberwiederstedt in der Oktobersonne

Lutherstadt Eisleben: Romantik der mondänen Art