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Montag, 25. September 2023 | Jakob Stephan

Romantik in der Praxis III: Frankfurter Brentano Ausgabe

Zum Curriculum des Kollegs gehört ein dreimonatiges Praktikum in einer der mit dem Kolleg kooperierenden Institutionen. In dieser Blog-Reihe berichten die Kollegiatinnen und Kollegiaten von ihren Ausflügen in die Praxis.

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Ein kurzer Blick auf das Ende des Figurenverzeichnisses genügt, um sich davon zu überzeugen, dass Clemens Brentanos erste Komödie Gustav Wasa [1800] kommentierungsbedürftig ist: Was soll ein englisches Humorbier oder arabisches Räucherwerk sein? Und was hat es mit dem rätselhaften mathematischen Punkt auf sich?

Für solche Fragen konsultieren neugierige Leser:innen eine Historisch-Kritische Ausgabe. Diese bietet neben einem ausgiebigen Kommentar des Textes eine autoritative Fassung desselben. Hinzu kommen Dokumente und Erläuterungen zu seiner Entstehungsgeschichte und ein Variantenapparat, in dem seine unterschiedlichen Fassungen (z. B. Erst – und Letztausgabe) miteinander verglichen und gegebenenfalls Abweichungen verzeichnet werden. Was den Kommentarband zu Gustav Wasa betrifft, muss man sich noch ein wenig gedulden. Er gehört noch nicht zu den bereits 38 abgeschlossenen Bänden (Teilbände nicht mitgezählt) der Frankfurter Brentano Ausgabe (FBA), die seit 1975 am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main entsteht. Während meiner dreimonatigen Praxiszeit (April 2023 bis Juni 2023) an der dortigen Brentano-Forschungsabteilung gewann ich einen lehrreichen Einblick in eines der langlebigsten Editionsprojekte des deutschsprachigen Raums.

Eine meiner Aufgaben bestand darin, die Wasa-Fassungen von FBA 12.1 [Abb. 2] mit der Erstausgabe von 1800 [Abb. 1] abzugleichen. Denn eine wichtige Lehre der Editionsphilologie ist: Etwas findet sich immer. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit eine Abweichung bedeutsam genug ist, als eine eigenständige Variante angesehen zu werden. Vergleicht man die Wasa-Fassungen, fällt auf, dass in der FBA mehr Punkte nach Kotzebue gedruckt sind als in der Erstausgabe. Sollte diese typografische Abweichung verzeichnet werden?

Mein Hauptaufgabenfeld bildete die Beschäftigung mit Kurrenthandschriften. Kurrent ist die deutsche Ausgangsschrift, die bis in die 1940er-Jahre von Schüler:innen gelernt worden ist. Ich arbeitete mich in Kurrent ein, indem ich Transkripte von Handschriften überprüfte, erstellte und ihren Kontext recherchierte. Dabei ging es meist um die zugegebenermaßen (für mich) etwas befremdlichen Handschriften Brentanos zu Anna Katharina Emmerich [1774-1824]. In seiner frömmelnden Spätphase stattete der romantische Dichter der von Visionen und Stigmata heimgesuchten Schwester Emmerich regelmäßig Besuche während ihrer letzten Lebensjahre ab [1819-1824]. Diese beinahe sympoetischen Treffen zwischen Dichter und Nonne schlagen sich in einem riesigen Konvolut von Handschriften und Notizen Brentanos über Emmerichs Visionen nieder, die die kanonische Bibelüberlieferung ergänzen und infrage stellen.

Dort lernte ich eher unbekanntere Figuren der christlichen Imagination kennen, wie die grausamen mesopotamischen Zauberinnen, Derketo und Semiramis, oder Marias ältere gleichnamige Schwester, die noch nicht die „verheißene Frucht“ [Clemens Brentano: „Leben Mariä“: in Frankfurter Brentano Ausgabe, Bd. 23,1, hg. Johannes Barth, Stuttgart 2016, S. 84.] gewesen war. Kurz gesagt, es gab für mich jeden Tag etwas Neues in den Handschriftenmappen zu entdecken. Daran schließt sich die zweite Lehre der Editionsphilologie an: Man lernt nie aus. Eine von den vielen überraschenden Entdeckungen – eine, wie ich finde, visuell ansprechende – möchte ich hier teilen [Abb. 3]: In dieser von Brentano angefertigten Kartenskizze bildet Emmerich mit ihren Händen einen Kreis, um das „Feld der Hirten“ bei Betlehem zu lokalisieren. Die Skizze mit ihren zahlreichen Korrekturen, z. B. das mit Bleistift gestrichene Jerusalem, zeigt, wie sehr es Brentano auf eine präzise Lokalisierung der biblischen Geschehnisse nach Emmerichs Visionen ankam. Bei aller dichterischen Imaginationsfreude erscheint hier Brentano als treuer Empfänger einer Offenbarung.

Mein Praktikum in der Forschungsabteilung des Hochstifts hat mir neben vielen fachlichen Einsichten vor Augen geführt, dass das berühmte ad fontem, das Zurückgehen zu den Quellen selbst, gewinnbringende, entdeckungsreiche und unterhaltsame Stunden bereithält – und dies sei die dritte editionsphilologische Lehre: Handschriften machen viel Vergnügen.

Abbildung 1: Ende des Figurenverzeichnisses von Gustav Wasa nach Erstausgabe. © Clemens Brentano: Gustav Wasa, Leipzig 1800, S. V.

Abbildung 2: Ende des Figurenverzeichnisses von Gustav Wasa nach FBA 12.1. © Clemens Brentano: „Gustav Wasa“, in: Frankfurter Brentano Ausgabe, Bd. 12.1, hg. Hartwig Schultz; Stuttgart [u. a.] 1982, S. V.

Abbildung 3: Eine von Brentano angefertigten Kartenskizze nach Schwester Emmerichs Visionen. © Privataufnahme Jakob Stephan